Willkommen
Warum spielen wir Theater?
Wir leben in einer Zeit globaler Krisen. Um mit Hamlet zu sprechen: Die Welt ist aus den Fugen. Die Umstände rufen nach Theater, nach Spielen mit den Verhältnissen, mit den Figuren, mit den Verursachern der Krisen und mit ihren Opfern.
(Theater-)Spielen ist eine ursprüngliche Ausdrucksform des Menschen. Es fördert und fordert seine Kreativität, es hilft, sich auf Ungewohntes einzulassen, schärft unsere Sichtweise und erweitert unseren Möglichkeitshorizont.
Theater ist traurig, schön, peinlich, wichtig, leise, laut, vereinend, verstörend, lässt uns gemeinsam lachen und weinen. Wenn die Spannung uns infiziert, halten wir den Atem gemeinsam an.
Im Theater sitze ich mit Leuten zusammen, die ich nicht kenne, deren Vorstellungen mir fremd sind, womöglich auch mit solchen, die ich nicht ausstehen kann, dennoch teile ich mit ihnen das Auf und Ab der Handlung in der Zeit des Theaters.
Hier können Jahre und Jahrzehnte in einer Minute abgehandelt werden und drei Stunden Aufführung können im Flug vorüber sein. Auf der Bühne agieren Figuren miteinander, die sich draußen zerfleischen würden. Das Theater gibt ihnen die Möglichkeit, auch schwierigste Konflikte in extremer Zuspitzung auszutragen und am Ende doch unversehrt nach Hause zu gehen.
Von Shakespeare kennen wir den Satz: Totus mundus agit histrionem (Die ganze Welt spielt Theater) Und je größer und verzwickter die weltweiten Krisen, desto treffender und wahrhaftiger sind die Stoffe, die auf der Bühne verhandelt werden.
Und Sie, verehrtes Publikum, spielen natürlich auch eine wichtige Rolle in diesem turbulenten Tohuwabohu, selbst wenn Sie sich im Zuschauerraum verstecken. Sie gehören dazu, sind Teil des Problems und hoffentlich am Ende auch Teil der Lösung. Theoretisch können Sie die Aufführung jederzeit abbrechen, aber es geschieht nicht, weil auch Sie auf ein gutes Ende hoffen. Und selbst wenn die Handlung tragisch endet, gilt immer noch der homerische Satz: Heiter sterben die Götter.
In diesem Sinne, besuchen Sie unsere Vorstellungen, lachen Sie mit uns, weinen Sie mit uns, unterbrechen Sie womöglich unsere Vorstellung und tragen Sie Ihre Vorstellungen vor. Wir wollen lebendiges Theater, zeitgenössisches Theater, echte Erlebnisse. Unsere Stücke stellen wir Ihnen im nächsten Fenster „Aktuelles“ vor.
Vorausschau:
Mit diesem Stoff beschäftigen wir uns demnächst:
Kunst und Krieg
Leben und Werk der Selma Merbaum
Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, ist nach Theodor W. Adorno barbarisch. Das jüdische Mädchen Selma Merbaum schreibt Gedichte, während im benachbarten Auschwitz der Genozid an ihrem Volk anläuft: Lyrische Gebilde gegen den ansteigenden Antisemitismus, gegen die Furcht und für ein Lebensgefühl, das den Leib ermuntert, sich zu zeigen, herauszugehen aus sich, um zu vergewissern, dass man noch lebt. 57 Gedichte entstehen, bevor sie in einem Arbeitslager der SS stirbt. Die Geschichte dieser lyrischen Zeugnisse von höchster Qualität ist als Metapher zu sehen auf die Ambiguität jeder Kunst: Wirksamkeit und Vergeblichkeit.
Selmas Gedichte, der Prozess ihres Entstehens, Versuche der Präsentation, Umstände des Verlusts, Wiederentdeckung und Aufstieg in die Ränge der Weltliteratur sind das Material einer theatralen Forschungsreise. Ausgelotet werden: Die Spannung von Darstellung und Empfindung, von Ich als dem anderen, vom Jetzt als den Koordinaten von Sein und Zeit.
Das Rahmenprogramm mit den Kooperationspartnern
Parallel zu der Stückerarbeitung appelliert eine Veranstaltungsreihe der Partner an interessierte Kreise der Stadtgesellschaft, sich umfassender und tiefer mit den Themen der Aufführung zu befassen. Im Fokus steht die Beschäftigung mit Lyrik, mit Lyrik in Bezug auf eine bestimmte historische Epoche, mit Lyrik im Kontext von Antisemitismus und Rassismus und um das Resonanzfeld Kunst und Krieg insgesamt.
Frage: Warum sind Zeiten und Räume der größten Not zugleich auch Zeiten der umwälzenden Ideen, der großen Literatur, der außergewöhnlichen Menschen? „Kunst und Krieg“ zeigt am Beispiel der jungen jüdischen Dichterin Selma Merbaum, wie Not und Enge, Macht und Willkür keinesfalls nur Angst und Ohnmacht erzeugen, sondern bei den Mutigen und Unduldsamen auch Fantasie, Widerstand und Schönheit hervorbringen können.
Schon früh begann Selma mit der Lektüre von Autoren, die großen Einfluss auf ihr eigenes Werk ausüben sollten: Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore. Eigene Gedichte von Selma Merbaum sind ab 1939 erhalten, da war sie fünfzehn Jahre alt. Während die totalitären Regime Rumänien, Sowjetunion und Deutschland wechselnd ihre Heimatstadt Cernowitz besetzten und terrorisierten, schrieb sie Gedichte gegen die Angst und das zunehmende Elend, bis sie mit achtzehn Jahren in einem Arbeitslager der SS am Fleckfieber starb.
Selma Merbaums Gedichte sind von beachtlicher Stilsicherheit und weitgehend von einer melancholischen Grundstimmung geprägt. Neben den Gedichten Paul Celans und Rose Ausländers gehört ihre Lyrik zum literarischen Erbe der von den Nationalsozialisten im Verbund mit den rumänischen Faschisten ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur der Bukowina.
Das erhaltene Werk umfasst 57 Gedichte, die sie sorgfältig mit Füller auf Einzelseiten geschrieben und zu einem Album gebunden hatte, das sie mit „Blütenlese“ betitelte. Sie widmete es ihrem Freund Leiser Fichmann, der wie sie selbst in der linken zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hazair aktiv war. Auf dem Weg in die Deportation konnte sie das Album einem Bekannten zustecken, der es ihrer Freundin Else Schächter (1924–1995) mit der Bitte gab, es an Leiser weiterzureichen. Leiser nahm das Album, gab es aber an Schächter zurück, als er sich 1944 zur Flucht nach Palästina mit dem Motorsegler Mefküre entschloss. Der wurde am 4. August 1944 torpediert, nur wenige überlebten – Leiser nicht. Doch Selmas Gedichte blieben erhalten, weil ihre Freundinnen Renée und Else sie quer durch Europa nach Israel trugen.